von Paul Sears
Wie viele andere Marketingfachleute wachte auch ich am 24. Juli morgens auf, um festzustellen, dass Twitter zu X wurde. Wie viele andere saß ich in meinem Schlafanzug da, die Beine über der Bettkante baumelnd, in einer Hand hielt ich mein Telefon, mit der anderen kratzte ich mich am Kopf. Zwei große Tassen Kaffee später hatte ich es immer noch nicht ganz verarbeitet. Nur allzu gerne hätte ich bei den Gesprächen mit den Investoren – oder mit den Werbepartnern – mitgelauscht.
Die Ankündigung löste im Internet eine Art Schockwelle aus. Nicht nur wegen des schmerzhaften Verlusts eines geliebten Markenzeichens (man bedenke die GAP-Panne von 2010). Aber vor allem aufgrund eines weiteren unerwarteten, eigenmächtigen Handelns des milliardenschweren Eigentümers Elon Musk. Ein Handeln, das die Plattform, für die er erst im Jahr zuvor Milliarden zahlte, weiter entwerten dürfte.
Fairerweise muss ich zugeben, dass ich einige Kommentare gesehen habe, die sich für das Rebranding aussprechen, und die Argumente durchaus nachvollziehbar sind. Twitter hatte sowohl vor als auch nach der Akquisition Geld verloren. Das Unternehmen hatte in mehreren Bereichen Imageprobleme. Das Produkt wird letztendlich wesentlich mehr bieten. Grundsätzlich bestreite ich nicht, dass der frühere Markenwert nicht optimal war und ein Rebranding potenziell wertsteigernd sein könnte … sofern es richtig gemacht wird. Dies war jedoch nicht der Fall, und hier sind meine zwei Gründe dafür.
Wir bei Allison sagen: „Eine Marke ist wie ein Mannschaftssport – es funktioniert nur, wenn alle Beteiligten daran glauben.“ Die Spieler sind die Kund:innen, Verbraucher:innen, Nutzer, Mitarbeiter:innen, Partner, Lieferanten, Investor:innen – und im Fall von X auch Werbepartner. Um den Glauben der Spieler an die Marke zu verstehen, verwenden wir einen fünf Punkte umfassenden Forschungs-, Strategie- und Planungsrahmen bzw. -konzept namens „V.I.T.A.L.“. Ich werde meine Sichtweise mit Ihnen teilen.
V – Vision. Wir überprüfen, inwieweit der Markt glaubt, dass die Vision deutlich, differenziert und innovativ ist. Meine Ansicht: Dieser Schritt zeugt von Ehrgeiz, bietet jedoch keinen eindeutig klaren Fahrplan. Tatsächlich vermute ich, dass viele angesichts der wechselhaften Natur des Themas genau das Gegenteil empfinden werden: Unklarheit. ABC News zitierte Finanzanalysten, die zum Zeitpunkt der Übernahme durch Musk sein Konzept der „Alles-App“ mit dem chinesischen WeChat verglichen und aufgrund der starken Konkurrenz bei wichtigen Funktionen nur eine Erfolgschance von 20 % voraussagten. Da es X eindeutig an Klarheit mangelt, fehlt es der Anwendung meiner Meinung nach auch an Differenzierung und Innovation.
I – Inspiration. Hierbei überprüfen wir die emotionale Affinität des Marktes zur Marke. Mein Standpunkt: Das X ist eine Löschtaste für jegliche verbleibende emotionale Bindung, die den Nutzern geholfen hätte, treu zu bleiben. Das markante, pragmatische X ersetzt das sympathische Icon der Verbundenheit durch neue Gefühle: kühner Ehrgeiz, düsterer Futurismus und Technologie statt Menschlichkeit.
T – Trust (zu Deutsch: Vertrauen). Glaubt der Markt, dass die Versprechen der Marke aufrichtig und glaubwürdig sind? Ist die Leistung konsistent? Mein Standpunkt: Das Rebranding von X ist der größte Vertrauensbruch gegenüber den Kunden seit der Privatisierung von Twitter. Größer als die Entlassung Tausender oder das Versäumnis von Mietzahlungen. Größer als all die Stolperfallen mit den Häkchen, die Inhaltsmoderation und die Markensicherheit. Mit dem Rebranding wird ein völlig neuer Kurs für das Unternehmen eingeschlagen. Es scheint, als hätte man sich an einem Sonntag dazu entschlossen, am selben Abend ein neues (kostenloses?) Logo per Crowdsourcing zu beschaffen und das Ganze am nächsten Tag willkürlich auf den Markt zu bringen … wer würde einer derartigen Marke schon seine sozialen Inhalte anvertrauen, geschweige denn seine Bankdaten?
A – Alignment (zu Deutsch: Abstimmung). Erkennt der Markt seine eigenen Werte im Verhalten der Marke wieder? Mein Standpunkt: Eindeutig nicht. Die „Über“-Seite von Twitter ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels immer noch aktiv und enthält Formulierungen wie „Im Leben geht es nicht um einen Job. Es geht um eine sinnvolle Philosophie. Wir glauben, dass echte Veränderungen mit Gesprächen beginnen. Deine Stimme zählt hier. Sei so, wie du bist, und wir werden gemeinsam den richtigen (und nicht den einfachen) Weg gehen, um der öffentlichen Konversation zu dienen.“ Das Rebranding war jedoch weniger ein Gespräch sondern eher eine einseitige Botschaft. Während die neuen Erklärungen zur Philosophie, zur Vision und zu den Werten noch nicht veröffentlicht wurden, berichtete NBC News Folgendes: „Musk sagte, die Idee, das Logo in ‚X‘ zu ändern, sei, ‚die Unvollkommenheiten in uns allen zu verkörpern, die uns einzigartig machen‘.“ Werte und der Glaube der Menschen an sie entwickeln sich langsam im Laufe der Zeit. Hier gibt es nur sehr wenig, woran man sich festhalten kann.
L – Leitung. Daran können wir überprüfen, ob die Marke ihre Versprechen auf bemerkenswerte und verantwortungsbewusste Weise umsetzt und sich für die Menschen in ihrem Umfeld engagiert. Mein Standpunkt: Die planlose Markteinführung spricht für sich. X hat noch einen langen Weg vor sich, bevor es als leitend bzw. führend gelten kann. Ein wesentlicher Bestandteil der Führungsrolle ist eine einwandfreie Durchführung, doch am Tag der Einführung herrschte ein Durcheinander von Twitter-Vögeln und X-Buchstaben, wohin man auch blickte. Die neu benannte X Corp. scheint weder die Kontrolle über ihre eigene Website-Domain zu haben, noch scheint die neue Plattform im Besitz des Markenzeichens für ihren Namen zu sein. Die überstürzte Umbenennung zeugt nicht von einer Führungspersönlichkeit, sondern von einem Unternehmen im Chaos.
Die Marke ist einer der mächtigsten Vermögenswerte, die ein Unternehmen besitzen kann. Auch auf die Gefahr hin, zu konservativ zu klingen, glaube ich, dass es entscheidend ist, beim Ruf auf Nummer sicher zu gehen und die Marke und die Liebe der Kund:innen, die sie repräsentiert, mit Ehrfurcht zu behandeln. Wenn die Zeit für eine Veränderung reif ist, dann ist sie auch reif – nur sollte man sie stets mit Bedacht vornehmen. Twitter war vielleicht nicht gerade die bedeutendste Power-Marke der Welt. Doch es war von Bedeutung und Wert für die Stakeholder, von denen viele das Unternehmen finanziell beeinflussen können. Mit der Zeit wird es sich zeigen, aber ich glaube, dass X einen hohen Preis dafür zahlen wird, dass es diese Stakeholder bei den hastigen Entscheidungen nicht berücksichtigt hat.
Da ich beruflich mit der Umgestaltung von Marken zu tun habe, bin ich ein großer Fan davon, große, gewagte Schritte zu machen. Doch ich glaube ebenso daran, sie mit Präzision und Bedacht zu tun. Ich hätte mich für einen inklusiveren Prozess der Mitgestaltung eingesetzt, bei dem die Stakeholder aus vielen Bereichen einbezogen worden wären, um die Zustimmung zu fördern. Ich würde vorschlagen, die Nomenklatur und die Semiotik vorab zu regeln, um Klarheit für die Nutzer zu schaffen. Außerdem würde ich empfehlen, die App, die Website, die E-Mails, die Banner usw. vollständig vorzubereiten, damit der letzte „Knopfdruck“ der Umsetzung nahtlos erfolgen kann.
Marken haben eine enorme finanzielle Macht, und so etwas kann und sollte nicht einfach über Nacht geändert werden. Letztendlich denke ich, dass wir einiges von X lernen können – und wer weiß, vielleicht erweist sich einiges davon letztendlich sogar als gut.
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Paul Sears ist Managing Director für Brand & Engagement Strategy. Mit 20 Jahren Erfahrung im Bereich Werbung, Marken- und Marketingstrategie hilft Paul seinen Kunden dabei, ihren strategischen Fokus zu schärfen – auf Markenebene oder aber für einzelne Produkte und Kampagnen.